Trockener Alkoholiker referiert vor Schülern - Keine Lügen über Drogen

Schüler der Klassen acht der Josef-Annegarn-Schule in Ostbevern hatten einen ganz besonderen Termin. Zwei Schulstunden lang hörten sie dem Lebensbericht eines trockenen Alkoholikers zu, durften ihm Fragen stellen und kamen so auch auf andere Süchte zu sprechen, jenseits des Alkohols.

Timo Schüssler sprach mit Schülern der Josef Annegarn-Schule über seinen Weg in die Alkoholabhängigkeit, die Konsequenzen für sein Leben und wie er aus der Abhängigkeit herausgekommen ist.
Timo Schüssler sprach mit Schülern der Josef Annegarn-Schule über seinen Weg in die Alkoholabhängigkeit, die Konsequenzen für sein Leben und wie er aus der Abhängigkeit herausgekommen ist.
Foto: Sebastian Rohlin

Schüler der Realschulklassen 8c und 8d der Josef-Annegarn-Schule haben an der Lesereise von und mit Timo Schüssler teilgenommen. „90 Minuten wird das Thema ,Alkohol, zwischen Genuss und Sucht, und was das mit den Schülern zu tun hat‘, sein“, war Schulsozialarbeiterin Daria Zickermann im Vorfeld gespannt, wie die Veranstaltung ankommen werde.

Das Besondere an diesem Vormittag war aber, dass kein Präventionsberater, Lehrer oder Polizist zu den Schülern gesprochen hat, sondern jemand, der, wie er selbst sagte, vom Nullpunkt in ein neues Leben gelangt ist, nachdem er Alkoholiker war: Timo Schüssler. „Damit eines klar ist, ihr könnt mich jederzeit alles fragen. Ihr müsst nur wissen, dass ich auf alle Fragen auch ehrlich antworten werde“, stellte Timo Schüssler seinen Ausführungen voran und ergänzte, dass es jedem frei stünde, wenn seine sehr ehrlichen und teilweise sehr expliziten Ausführungen jemanden zu nahe gingen, kurz raus vor die Tür zu gehen. „Ich sage euch aber auch, dass ihr dann wieder reinkommen sollt. Denn im Leben kann man vieles, weglaufen vor der Wahrheit hat aber noch niemanden geholfen.“

Was folgte war ein Rückblick auf das Leben des heute 42-Jährigen. „Seit 2010 stehe ich dem ersten Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Warum, das erzähle ich euch gern.“ Angefangen bei seinem ersten Bier im Alter von 14 Jahren, seiner Ausbildung zum Alten- und Krankenpfleger sowie seine Fortbildung zum OP-Assistenten und der Normalität des Feierabendbieres fingen seine Ausführungen an. „Da hatte ich dann jemanden vor mir liegen, der hatte sich sprichwörtlich das Gehirn weggesoffen. Alles, was ich dachte, war: Das kann mir nicht passieren“, beschrieb er immer wieder, wie er sich selbst belogen habe und wie es immer weiter fortgeschritten sei. „Das ist nicht mein Pro­blem. Am Feierabend habe ich dann wieder getrunken.“ So sei das 2006 gegangen. Dann sei er gekündigt worden, da er zu unzuverlässig geworden sei. „Wenn ich einen Kater hatte, habe ich mich einfach krank gemeldet“, erzählte er.

Was im WM-Jahr 2006 folgte, sei ein geiler Sommer gewesen. Feiern ohne Ende. „Am Ende des Sommers war ich dann aber körperlich vom Alkohol abhängig – mit allen Konsequenzen.“ Was folgte waren mehrere Entgiftungen im St.-Rochus-Hospital in Telgte sowie zwei Langzeittherapien. „Warum Entgiftung? Weil jeder Konsum von Alkohol eine Vergiftung des Körpers ist, deswegen“, sagte er und ergänzte, dass das niemals jemand alleine zu Hause machen dürfe, zu groß sei das medizinische Risiko. Das Problem: Kaum aus der Fachklinik entlassen, trank er wieder. Bis er eines Tages mit dem Krankenwagen ins St.-Franziskus-Hospital nach Münster gebracht werden musste. „Bei mir ging gar nichts mehr. Meine Wohnung sah schlimmer aus als die, die bei den Fernseh-Messies gezeigt werden“, erinnerte er sich. Was folgte war ein Verwahrlosten-Protokoll und die Verlegung auf die Intensivstation. „Ich war kurz vorm Sterben, aber ich konnte dem Arzt noch mitteilen, dass ich keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünsche.“

Was Timo Schüssler zu diesem Zeitpunkt nicht wusste war, dass der Fahrer des Krankenwagens zufällig seinen Bruder kannte, den er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, weil er den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hatte. „Die haben mir zu oft gesagt, dass ich ein Problem hätte, da habe ich mich von ihnen abgewendet“, sagte er. Dieser Zufall rettet ihm am Ende das Leben, auch wenn er die ersten sechs Monate nicht alleine auf die Toilette gehen konnte und auch sonst alle Probleme hatte, die er aus seiner aktiven Zeit als Pflegekraft kannte und von denen er damals selbst behauptete – „das kann mir nicht passieren“. „Da war ich 33 Jahre alt.“

Die Schüler waren den gesamten Vortrag über mucksmäuschenstill. Vereinzelte Fragen wurden, wie von Timo Schüssler angekündigt, ehrlich und direkt beantwortet. Am Ende waren die Schüler sehr angetan und berührt von dem Vormittag, wie Nachfragen ergeben haben. Nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil der Referent nicht nur schonungslos ehrlich war, sondern weil er immer wieder auch den Bogen in die Lebenswirklichkeit der Schüler schlug, und seine Alkoholsucht etwa auf die Themen Magersucht und Handyabhängigkeit übertragen konnte.

„Sucht hat nichts mit dem Kopf zu tun. Das ist eine reine Gefühlssache. Da fühlt sich etwas geil an, deswegen muss das gemacht werden. Warum trinken 96 Prozent der Deutschen? Weil es Spaß macht. Möglichen Konsequenzen werden da gerne einfach ausgeblendet. Die passen halt nicht zum Spaß dazu.“

Der Vormittag von und mit Timo Schüssler sollte an den „Suchtag“ der JAS vom 7. Februar erinnern und zugleich eine Brücke zu der in der Gemeinde anstehenden Suchtwoche im September schlagen, wo es weitere Veranstaltungen, dann auch für Eltern und andere Erwachsene, rund um das Thema gibt.

Quelle: WNDienstag, 14.05.2019, 13:22 Uhr)